Rübenkraut, Schmalz, Kaninchenbraten...

Über die Ernährungsgewohnheiten Lohberger Bergmannsfamilien

in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts - von Dr. Inge Litschke.

 

Anfang dieses Jahrhunderts wurden am Fuße des Oberlohbergs in der dünn besiedelten HiesfeIder Bauernschaft Unterlohberg - heute Dinslaken-Lohberg - die Schächte Lohberg 1 und 2 abgeteuft. Eine geschlossene Siedlung Lohberg gab es vor dem Abteufen der Schachtanlage nicht. Die Landschaft unterhalb des Oberlohbergs bot vor dem Niederbringen der Lohberger Schächte ein Bild ländlicher Beschaulichkeit, das sich erst änderte, als der Bergbau den grundlegenden Wandel schuf.

 

Mit dem Bergbau kamen die Zuwanderer, die hier Arbeit, Brot und eine neue Heimat für sich und ihre Familien zu finden hofften. Am Anfang waren es nur wenige, später einige Tausend. Sie stammten vor allem aus dem Osten, insbesondere aus den früheren preußischen Ostprovinzen Ost und Westpreußen, Posen und Schlesien. Aber auch aus dem niederrheinischen und angrenzenden westfälischen Raum, von der Saar und Mosel, aus dem Hannoverschen, aus Hessen, Sachsen und Bayern kamen Arbeiter mit ihren Familien nach Lohberg. Viele Ausländer suchten ebenfalls auf dem neuen Bergwerk Arbeit; hier sind vor allem polnische und tschechische Zuwanderer zu nennen, aber auch Österreicher, Jugoslawen, Holländer und Ungarn.

 

Um die wachsende Belegschaft des neu entstehenden Bergwerks unterzubringen, wurde am Fuße des Oberlohbergs im freien Gelände nach Westen ab 1907 eine Bergarbeiterkolonie angelegt. Bei Planung und Bau der Kolonie Lohberg wurden bewußt Fehler vermieden, die in den Anfängen des Siedlungsbaus für Bergarbeiter häufig gemacht wurden: zu kleine Wohnungen, zu enge Zimmer, Anlage von monotonen Hausreihen, fehlende Unterbringungsmöglichkeiten für Alleinstehende. Nach einem wohldurchdachten Plan, der deutlich die Einflüsse der Gartenstadtbewegung erkennen läßt, entstand eine geschlossene Bergarbeiterkolonie, die sich positiv von vielen älteren Kolonien des Ruhrgebiets abhob. Die Koloniewohnungen waren bei den Bergleuten sehr begehrt. Zum einen waren die Mieten niedriger als auf dem freien Wohnungsmarkt. Zum anderen ergab sich die Attraktivität vor allem aus dem halbagrarischen Charakter dieser Wohnform, der den regionalen Traditionen der jeweiligen agrarischen Herkunftsgebiete Rechnung trug und Viehwirtschaft sowie Garten- und Feldanbau erlaubte.

 

Die isolierte Lage der Kolonie in einem bis zur Jahrhundertwende von der Industrie völlig unberührten Landstrich machte es notwendig, gleichzeitig mit den Siedlungsbauten eigene Sozial, Kultur und Versorgungseinrichtungen zu schaffen, da die neue Siedlung vollkommen abgesetzt von der in Hiesfeld oder Dinslaken vorhandenen Infrastruktur gebaut wurde. Es entstand nach und nach eine funktionierende eigene infrastrukturelle Ausstattung der Kolonie mit Schulen, Kindergärten, Kirchen, Arztpraxis, Polizeistation, Poststelle, Kasino, Wirtshäusern, Metzgerei, mehreren Einzelhandelsgeschäften und einer Konsumanstalt, die eine Lebensmittelabteilung, eine Fleischerei und eine Manufakturwarenabteilung in sich vereinte. Ab 1916 wurde wöchentlich zweimal Wochenmarkt abgehalten.

 

Von der Heterogenität zur Homogenität der Lebensformen

 

Aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Traditionen, Kenntnisse, Bildung, Religion, politischer Einstellung, persönlicher Interessen und Neigungen kam innerhalb weniger Jahre in Lohberg eine sehr heterogene Bevölkerung zusammen. Diese Verschiedenheit kam zunächst auch in den Ernährungsgewohnheiten zum Ausdruck, die anfangs noch stark landsmannschaftlich geprägt waren. Das enge Zusammenleben in der Kolonie und die für alle zuziehenden Familien gleichen Lebensbedingungen führten jedoch bald zu einer Entwicklung von der Heterogenität zur Homogenität der Lebensformen. BREPOHL spricht in diesem Zusammenhang von einer “Verwestdeutschung” (1) der Kultur und des Volkstums. Gemeint ist eine Überlagerung der in den Herkunftsgebieten geübten Lebensformen durch westfälische und niederrheinische Einflüsse. Die Übernahme von Gewohnheiten der neuen Heimat gilt in besonderem Maße für den Bereich der Ernährung. Bald hielten auch in Lohberger Küchen Panhas, Reibekuchen und Dicke Bohnen mit Speck Einzug, Gerichte, die den Frauen aus den östlichen Herkunftsgebieten vorher nicht einmal dem Namen nach bekannt gewesen waren (2). Die billigere Kartoffel verdrängte als Grundnahrungsmittel die Mehlspeisen der aus Süddeutschland, Österreich und Böhmen stammenden Familien (3) . Niederrheinische Eintopfgerichte gehörten bald zum festen Kochrepertoire aller Lohberger Hausfrauen. Aber auch einige landsmannschaftliche Speisen wurden weiter zubereitet und zum Teil von Nachbarinnen aus anderen Herkunftsgebieten übernommen. Manche dieser Gerichte aus der alten Heimat gehörten vor allem an Feiertagen fest zum Speiseplan. Als Gerichte, die den Wechsel in die Bergarbeiterkolonie überstanden, sind z. B. zu nennen: der böhmische Apfelstrudel, der sächsische Christstollen, die schlesischen Mohnklöße, schwarzsauer Gänseklein bei den Familien aus Pommern, Borschtsch, Bigos und Schur (4) bei oberschlesischen und polnischen Familien sowie die jeweils besonderen Mehl, Kartoffel oder Semmelklöße der Herkunftsgebiete.

 

Die Gestaltung der einzelnen Mahlzeiten bzw. das, was in den Bergarbeiterfamilien auf den Tisch kam, wurde in allen Haushalten letztlich von den gleichen Faktoren bestimmt, und zwar

 

  • von den meist sehr knappen finanziellen Mitteln der Familien 
  • von Art und Umfang der Subsistenzproduktion und deren Verwertung
  • vom Nahrungsmittelangebot in den Geschäften und auf dem Wochenmarkt 
  • von in der Familie tradierten Rezepten und Gerichten
  • von den Kochkenntnissen, die Bergmannsfrauen und Töchter als Dienstmädchen in städtischen Haushalten oder als Mägde auf Bauernhöfen erworben hatten
  • zu einem geringen Umfang auch von Kenntnissen, die alle Lohberger Bergmannstöchter ab 1921 im hauswirtschaftlichen Unterricht der Lohberger Volksschulen erwarben. Die von den Töchtern im Unterricht nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen zubereiteten und häufig auch neuen Gerichte fanden in den Familien meist nur geringe Akzeptanz und wurden mit Bemerkungen wie: “Son neumodischen Kram mögen wir nicht! “ (5) abgelehnt.

 

Zur Subsistenzproduktion

 

Das Wohnen in der Kolonie bot vor allem Möglichkeiten der Subsistenzproduktion, d. h. der Produktion von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf durch Nutztierhaltung, Bewirtschaftung von Gärten und Bebauung von Ackerland. Zu jeder Wohnung gehörten ursprünglich Keller, Trockenboden und ein Stall, in dem Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner und Kaninchen gehalten werden konnten. Art und Umfang der Subsistenzproduktion variierten von Haushalt zu Haushalt. Besonders in der ersten Generation betrieben fast alle Haushalte, und zwar vor allem die vielen Familien mit großer Kinderzahl, Garten und Feldanbau sowie Viehwirtschaft diese in einem beträchtlichen Ausmaß.

 

 

“Wir haben immer zwei Ziegen, zwei Schweine, Gänse, Hühner und Kaninchen gehalten und 40 Ruten (6) Land für Gemüse und Viehfutter bearbeitet. Alle Kinder mußten im Haus, im Stall und im Garten helfen”, (7) berichtete eine Lohbergerin, Jahrgang 1901. Sie war eines von neun Kindern eines Lohberger Kohlenhauers. Andere Familien bewirtschafteten nur den Hausgarten, kein zusätzliches Pachtland, hielten nur ein Schwein oder die als Bergmannskuh bekannt gewordene Ziege, manchmal auch Schafe, fast immer ein paar Kaninchen und Hühner.

 

In den Gärten und auf dem Pachtland wurden etwas Beerenobst, Viehfutter (Rüben, Futterkohl, Roggen), Kartoffeln und folgende Gemüsesorten angebaut: Melde, Spinat, Mangold, Kopf und Schnittsalat, Stielmus, Dicke Bohnen, Kohlrabi, Möhren, Erbsen, Busch und Stangenbohnen, Zwiebeln, Gurken, Kürbis, Porree, Sellerie, Rote Bete, Wirsing, Weiß, Rot und Grünkohl. An Kräutern wurden Petersilie, Schnittlauch, Dill, Bohnenkraut, Liebstöckel und Pfefferminze gezüchtet.

 

Während einige Gemüsesorten nach der Ernte sofort dem Verzehr zugeführt wurden, kamen andere sowohl frisch als auch erst später in konservierter Form auf den Tisch. Dasselbe gilt für die erzeugten Fleischprodukte: Kaninchen, Hühner und Gänse wurden kurz vor dem Verzehr geschlachtet. Kaninchen waren beliebter Festtagsbraten, kamen jedoch auch manchmal sonntags auf den Speiseplan. Hühner wurden vor allem der Eier wegen, weniger als Schlachtgeflügel gehalten. Alte Hennen landeten im Suppentopf. Die Gänsehaltung war besonders bei Familien aus Pommern beliebt, und zwar wegen des Gänsebraten, der Eier und vor allem auch wegen der wertvollen Federn, die an Winterabenden gesplissen wurden. Das, was die größeren Tiere, in erster Linie das Schwein, aber auch Ziege und Schaf nach dem Schlachten an Fleisch und Fett lieferten, wurde bevorratet. Ziegen und Schafe hielten die Lohberger allerdings nicht hauptsächlich des Fleisches wegen, sondern als Milchlieferanten, um unabhängig von der teuren Kuhmilch, die von mehreren Milchbauern per Pferd und Wagen in die Kolonie gebracht und auf der Straße lose verkauft wurde, die Versorgung der Familie mit Milch sicherzustellen. Ziegen und Schafsmilch wurden getrunken, zu Milchsuppen verarbeitet und als Dickmilch verzehrt. Aus Sauermilch wurde Quark, aus abgeschöpftem Rahm Butter hergestellt. Schafe wurden auch der Wolle wegen gehalten.

 

Der Subsistenzproduktion im weitesten Sinne zuzuordnen ist auch eine rege Sammeltätigkeit, die die meisten Haushalte entfalteten. Gesammelt wurden Kräuter für die Zubereitung von Tees, Pilze, die im Spätsommer und Herbst den Speiseplan bereicherten, Himbeeren und Brombeeren für die Herstellung von Marmeladen, Gelees und Säften. Eine besondere Vorliebe galt den Waldbeeren (Blaubeeren bzw. Heidelbeeren). Zum Sammeln der Heidelbeeren fuhren viele Lohberger, bepackt mit Blecheimern, Körben und Wolldecken, mit dem Fahrrad in den Reichswald bei Kleve “in die Waldbeeren”, wie es hieß. Nach mehrstündiger Radfahrt wurde die Nacht im Wald verbracht, danach vom Morgengrauen an gesammelt und am späten Nachmittag die Heimfahrt angetreten. Die Waldbeeren wurden sowohl frisch und roh verzehrt als auch auf Pfannkuchen gegeben, eingekocht und zu Marmelade verarbeitet.

 

Da die Löhne gering und die Lebensmittelpreise im Vergleich dazu hoch waren (8), waren die selbst produzierten Nahrungsmittel für die Sicherstellung der Ernährung der Bergmannsfamilien unentbehrlich. In besonderen Notzeiten gelang es allerdings trotz größter Anstrengungen den Bergleuten und ihren Frauen selbst mit Hilfe der Subsistenzproduktion nicht, eine ausreichende Ernährung ihrer Familien zu gewährleisten. Zu nennen sind hier die Zeiten extremen Nahrungsmangels während der Hungerjahre im Ersten Weltkrieg und nach beiden Weltkriegen, aber auch die Zeiten äußerster finanzieller Not vieler Familien während der Dauer und Massenarbeitslosigkeit Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre.

 

Vorratswirtschaft

 

In allen Lohberger Haushalten betrieben die Bergmannsfrauen eine umfangreiche Vorratswirtschaft. Der Zeitaufwand für die Haltbarmachung der Nahrungsmittel war an vielen Tagen wesentlich größer als der für die Zubereitung der Speisen. Die Aufstellung der Haushaltsausstattung der Familie Kresse, bestehend aus Eltern und vier Kindern, weist z. B. hinsichtlich der Bevorratung von Nahrungsmitteln folgende Aufzeichnungen aus: Einkochapparat, 80 Einkochgläser (gefüllt), 40 Einkochgläser (leer), 20 Zentner Kartoffeln, 3 Steintöpfe, gefüllt mit Sauerkraut, Salzgurken, Schnippelbohnen (9).

 

Zur Haltbarmachung von Lebensmitteln wurden sowohl physikalische als auch chemische Verfahren angewandt, und zwar:

  • Einkellerung und Einlagerung - Pro Person wurden im Herbst drei Zentner Kartoffeln eingekellert. Die Kartoffeln kauften viele Familien direkt beim Bauern. Da die Bezahlung der großen Kartoffelmengen manchen Haushalten erhebliche Probleme bereitet, war auch der Bezug über die Zeche nicht unbeliebt; denn die Kosten wurden in Raten vom Lohn abgezogen. Außer Kartoffeln wurden Möhren, in Sand gebettet, Rote Bete und Sellerie eingelagert, kurzfristig auch Weiß- und Rotkohl. Grünkohl und Porree überwinterten im Freien. Bei drohendem Frost wurden auch etliche Stangen Porree in den Keller gebracht.
  • Einkochen (Sterilisieren) - Eine Ausrüstung zum Einkochen (Kessel, Thermometer, Einsätze, Klammern, Gläser, Gummiringe) dürfte in keinem Haushalt gefehlt haben. Eingekocht wurden Fleisch und Wurst aus der Hausschlachtung, Obst und Gemüse.
  • Trocknen - Durch Trocknung wurden Hülsenfrüchte, Zwiebeln, Kräuter und Pilze, manchmal auch Obst haltbar gemacht. Erbsen und Bohnen wurden anschließend in Dosen, Zwiebeln nach dem Abtrocknen des Lauches in Körben oder aufgehängten Zwiebelsäckchen aufbewahrt. Pilze schnitt man in Stücke, die dann auf Fäden gezogen und zum Trocknen aufgehängt wurden. Dörrobst wurde entweder an der Luft oder im geöffneten Backofen hergestellt. Wichtig war es, die getrockneten Nahrungsmittel luftig und trocken aufzubewahren, um einen Befall mit Schimmelpilzen zu vermeiden.
  • Haltbarmachung mit Zucker - Dieses Verfahren kam vor allem bei der Herstellung von Marmeladen und Gelees zur Anwendung.
  • Einlegen in Essiglösung - Durch Einlegen in konzentrierte Essig oder Essig-Zucker-Lösung wurden Essiggurken und -zwiebeln, Essigpflaumen und -birnen hergestellt, Rote Bete und Kürbis haltbar gemacht. Den Gurken und Zwiebeln wurde meist Salizylsäure als weiteres Konservierungsmittel zugesetzt. Pflaumen und Birnen erhielten ein in Rum getränktes Cellophanblatt als Abdeckung. Cellophan diente auch als Verschluß der Gläser mit dem Einlegegut.
  • Einlegen in Wasserglaslösung - Dieses Verfahren wurde zur Haltbarmachung roher Eier angewandt. Dabei machte man sich zunutze, daß in einer solchen Lösung die Poren der Eischale durch Bildung unlöslicher Salze verschlossen werden.
  • Konservierung mit Hilfe von Mikroben - Mit Hilfe der Milchsäuregärung wurden Sauerkraut, milchsaure Gurken (sogenannte Salzgurken), saure Schnippelbohnen und manchmal auch saures Stielmus hergestellt. Selbstgemachtes Sauerkraut dürfte es in jedem Lohberger Haushalt gegeben haben. Meist wurde pro Haushalt ein Zentner Weißkohl verarbeitet. Der Kohl wurde auf dem Markt oder direkt ab Bauernhof gekauft, wenn die Eigenproduktion nicht ausreichte. Haushaltswarengeschäfte verliehen große Kohlhobel. Auf diesen wurde der Kohl in feine Streifen geschnitten und danach mit Salz in Steintöpfen eingestampft und zu Sauerkraut vergoren.
  • Pökeln und Räuchern - Pökeln (Haltbarmachen mit Salz und Salpeter im Pökelfaß) und Räuchern waren bei der Hausschlachtung unverzichtbare Konservierungsverfahren (s. u.).
  • Aufbewahren in Fett - Dieses Verfahren wurde ebenfalls zur Haltbarmachung von Fleisch aus der Hausschlachtung angewandt (s. u.).

Besonders schwierig war es, leicht verderbliche Nahrungsmittel über einen kurzen Zeitraum frischzuhalten, da es in keinem Haushalt einen Kühlschrank gab. Lediglich die Lebensmittelgeschäfte und Metzgereien besaßen Kühlgeräte, die zum Teil mit Stangeneis beschickt wurden. Milch, Milchprodukte, Frischfleisch und Wurstwaren wurden daher möglichst am Tage des Verzehrs oder höchstens einen Tag vor einem Sonn oder Feiertag eingekauft und, geschützt vor Fliegen, im kühlsten Raum der Wohnung oder im Keller aufbewahrt. Milch kochte man sofort ab, um sie vor dem Sauerwerden zu schützen. War dies einmal nicht rechtzeitig geschehen, so wurde sie als Dickmilch verwendet.

 

Schweinehaltung und Hausschlachtung

 

Besondere Umsicht, Sorgfalt und Kenntnisse waren bei der Schweinehaltung, der Hausschlachtung, der Verarbeitung und Konservierung des Fleisches und der Fleischprodukte erforderlich. Das begann bereits beim Kauf der Ferkel, die kräftig und gesund und möglichst gegen Rotlauf, eine meist tödliche Infektionskrankheit der Schweine, geimpft zu sein hatten. Ställe, in denen es Rotlauf gegeben hatte, “wurden gemieden wie die Pest” (10). Ein alter Aberglaube verbot, daß die Nachbarn das neue Ferkel bei der ersten Begutachtung lobten; denn das hätte, so glaubte man, dem Tier Unglück und Krankheit gebracht. Lobten sie es doch, so wurde hinter ihnen ausgespuckt, um das Unheil abzuwenden. Vor dem Kauf eines neuen Schweines wurde der Stall gründlich geschrubbt und meist auch gekälkt, anschließend mit Stroh ausgelegt, das vom eigenen Pachtland stammte oder bei den Bauern der Umgebung gekauft wurde. Die Tiere wurden während der gesamten Aufzucht und Mastzeit auf Stroh oder trockenem Farnkraut gehalten, die Ställe regelmäßig ausgemistet.

 

Als Schweinefutter dienten Kartoffeln, Runkelrüben, Kartoffelschalen und sämtliche Küchenabfälle. Selbst das Spülwasser wurde dem Schwein zugeführt. Man setzte es zum Anrühren des Futters ein. Auch Sauerfutter, das manche Haushalte nach dem Schlachten bis zum Kauf eines neuen Ferkels aus Kartoffelschalen herstellten, wurde dem Schwein gegeben. Bei anderen Familien wiederum war dieses Sauerfutter verpönt, weil es entsetzlich stank. Da Abfälle und das Futter aus eigenem Anbau meist für die Mast nicht ausreichten, war es notwendig, Kartoffeln, Roggen und Schweinemehl, ein Mühlenabfallprodukt, als Kraftfutter zuzukaufen. Viele Familien hielten deshalb gleichzeitig zwei Schweine, von denen eines schlachtreif und lebend an die örtliche Metzgerei verkauft wurde. Auf diese Weise wurden die Futterkosten für beide Tiere wieder hereingeholt, und es blieb Geld für den Kauf neuer Ferkel übrig.

 

Geschlachtet wurde im Herbst, in manchen Familien auch noch einmal im Frühjahr. Es gab in der Kolonie einige Bergleute, die vor ihrer Tätigkeit beim Bergbau als Metzger gearbeitet hatten oder Kenntnisse über Hausschlachtung aus ihren ländlichen Herkunftsgebieten mitbrachten. Sie übernahmen gegen geringes Entgelt, meist in Form von Schlachtprodukten, das Schlachten und Wursten. Nach dem Töten des Schweines durchtrennte der Metzger die Halsschlagader des Tieres. Ungeliebte Aufgabe der Bergmannsfrauen war es, das auslaufende Blut zu rühren, damit es nicht verklumpte und zur Herstellung von Blut und Grützwurst verwendet werden konnte. Das ausgeblutete Tier wurde in einer Wanne gebrüht, entborstet und anschließend mit dem Kopf nach unten auf eine Leiter gehängt. Danach schnitt der Metzger es von oben bis unten auf, weidete es aus, reinigte die Därme und stülpte sie dabei um.

 

Jetzt zeigte sich am aufgeklappten “Schweinchen auf der Leiter”, wie das Tier nun genannt wurde, ob das Schwein gut gefüttert worden war. Geprüft wurde durch Anlegen der Hand an die Speckschicht. Waren die Speckseiten nicht mindestens eine Handbreit hoch, dann hatten vor allem die Nachbarn, bei denen ein fetteres Schweinchen auf der Leiter hing, nur Geringschätzung für das Tier übrig und machten abfällige Bemerkungen.

 

Weiterverarbeitet bzw. gegessen werden durfte das Fleisch erst nach Freigabe durch den Trichinenbeschauer. Er kam zur Untersuchung auf Trichinenbefall mit einem Mikroskop ins Haus und besah an unterschiedlichen Körperstellen des Tieres entnommene Proben. War alles einwandfrei, dann wurde das Fleisch gestempelt und damit zum Verzehr freigegeben.

 

Die Weiterverarbeitung und das Wursten erfolgten am Tag nach dem Schlachten. Verwendet wurden sämtliche Teile des Tieres: Magere Fleischstücke wurden angebraten und als späterer Sonntagsbraten eingekocht; aus Flomen und einem Teil des Specks wurde Schmalz ausgelassen; Kopf und Pfötchen wurden zu Sülze verarbeitet; das gebratene Hirn galt als Delikatesse; Innereien kamen, soweit sie nicht als gebratene Leber, saure Nierchen oder Lungenhaschee sofort gegessen wurden, zusammen mit Fleisch und Speckstückchen in die Wurst. Hergestellt wurden Leber und Blutwurst, Mettwurst, Grützwurst, Semmelwurst und Schwartemagen. Die Wurstmasse wurde zum Teil in Gläser gefüllt und eingekocht, zum Teil aus dem Wurstvorsatz des Fleischwolfs in die gereinigten und umgestülpten Därme gepreßt. Magen und Blase des Schweines wurden mit der Schwartemagenzubereitung gefüllt. Die Würste wurden in einem großen Kessel gekocht. Geplatzte Würste machten die Wurstbrühe besonders wertvoll und schmackhaft. Diese Brühe wurde mit Buchweizenmehl zu Panhas verarbeitet, aber auch eingekocht, um später als nahrhafte Grundlage für Eintopfgerichte zu dienen.

 

Einer aufwendigen Konservierung wurden Speckseiten und Schinken unterzogen. Sie wurden zunächst gepökelt und nach Entnahme aus dem Pökelfaß erst getrocknet, dann geräuchert. Der Lohberger Bergmann Heinrich Freischmidt, Jahrgang 1870, hatte in seinem Keller eine Räucherkammer angelegt. Gegen ein geringes Entgelt, meist in Form von Geräuchertem, besorgte er das Räuchern für die Koloniebewohner. Dazu setzte er Sägespäne vom Holzplatz der Zeche und Wacholderzweige ein. Nicht nur Speck und Schinken, sondern auch die Würste ließ man räuchern, um sie haltbar zu machen. Große Sorgfalt wurde darauf verwandt, Schinken und Speckseiten vor Madenbefall zu schützen. Sie wurden in Nesselsäckchen gesteckt und ebenso wie die geräucherten Würste an luftiger und trockener Stelle in der Wohnung aufgehängt, meist unter der Decke eines Innenflurs.

 

Auf eine heute kaum noch bekannte Art wurden Koteletts über längere Zeit frischgehalten. Nachdem man sie unpaniert von beiden Seiten kräftig und gut durchgebraten hatte, schichtete man sie nach dem Abkühlen abwechselnd mit Schmalz in einen Steintopf und deckte sie mit einer dicken Schicht Schmalz ab.

 

Die Tage des Schlachtens und Wurstens waren besonders für die Bergmannsfrau sehr arbeitsaufwendig, zumal sie als Abschluß noch für ein üppiges Mahl, bestehend aus Fleisch, Wurst, Klößen und geschmortem Sauerkraut, zu sorgen hatte. Zu diesem Essen, dem sogenannten Schlachtfest, wurden häufig auch Freunde, Nachbarn und Verwandte eingeladen. Bei allen, die mit Kartoffelschalen und anderen Küchenabfällen zur Fütterung des Schweins beigetragen hatten, bedankte man sich mit etwas Wurstbrühe und einem Stückchen Wurst, Speck oder Fleisch. Diese kleinen Gaben herumzutragen, war Aufgabe der Kinder.

 

Mahlzeitenordnung, Mahlzeiten, Speisen und Getränke

 

Wichtigste Elemente jeder Mahlzeitenordnung sind Raum und Zeit. Als Raum für die Einnahme der Mahlzeiten stand der Bergmannsfamilie nur die Wohnküche zur Verfügung. Sie war der Alltags- und Feiertagsraum, in dem sich das Leben abspielte. In der Küche wurde das Essen vor- und zubereitet; am Küchentisch wurde gegessen; wenn die Wohnung keine zusätzliche Spülküche hatte, wurde in der Wohnküche auch gespült und gewaschen.

 

Zu den einzelnen Mahlzeiten im Tagesrhythmus versammelte sich an Werktagen selten die ganze Familie. Die zeitliche Folge der Mahlzeiten und die Zusammensetzung der Tischgemeinschaft hingen von den Schulzeiten der Kinder und von der jeweiligen Schicht des Bergmanns ab, der fast immer Wechselschicht hatte.

 

Bei Frühschicht standen die Männer bereits um kurz vor 5.00 Uhr auf, aßen ein Schmalz oder Rübenkrautbrot und tranken eine Tasse Malzkaffee, der in einer Kanne hinten auf dem Küchenherd stand und meist noch lauwarm war. Da es in allen Haushalten nur Kohlenherde gab, in denen nach Entnahme der Asche das Feuer jeden Morgen neu angezündet werden mußte, wurde es im allgemeinen als zu zeitaufwendig angesehen, schon vor der Frühschicht frischen Kaffee zu kochen. In manchen Familien geschah dies aber doch, wenn die Frau auch aufstand und den Mann versorgte. Gegen 5.15 verließen die Männer die Wohnung, da sie um 6.00 Uhr umgezogen unter Tage vor Ort oder vor Stein die Arbeit aufnehmen mußten. Für die “Dubbelpause” (11), nahm jeder Bergmann seine mit Malzkaffee gefüllte Kaffeepulle mit und ein Paket Butterbrote, eingewickelt in Zeitungspapier. Die Brote waren entweder mit Schmalz bestrichen oder mit Schinken oder Wurst, meist aus der eigenen Hausschlachtung, belegt, manchmal mit Käse. Beliebter Brotbelag waren übrig gebliebene Reibekuchen vom Abend vorher, seltener Bratkartoffeln. Arbeiter des Tagesbetriebes nahmen an Stelle von Butterbroten auch einen gefüllten Henkelmann mit, für den es in der Nähe des Kesselhauses eine Aufwärmmöglichkeit gab. Für unter Tage war der Henkelmann ungeeignet.

 

Die Kinder verzehrten das erste Frühstück vor Schulbeginn. Inzwischen brannte ein Feuer im Herd, und es gab frisch gebrühten Malzkaffee mit Milch und Zucker, für kleinere Kinder auch warme Milch. Milch und Zucker gab die Hausfrau für alle sofort in die Kanne, um sicherzustellen, daß niemand zuviel davon verbrauchte. Es war auch üblich, daß sie für alle Familienmitglieder die Brote strich. Zum Frühstück waren das Schmalzbrote oder Brote mit Margarine und Rübenkraut, Marmelade oder Kunsthonig. Wenn nichts anderes da war, durften sich die Kinder auch etwas Zucker auf das mit Margarine bestrichene oder auf das nur angefeuchtete Brot streuen. Abgesehen von Zeiten der Hungersnot, fehlten der Schmalztopf und das Glas mit dem lose gekauften Rübenkraut allerdings so gut wie nie. Meist frühstückte die Mutter erst, wenn die Kinder das Haus verlassen hatten. Ihr Frühstück entsprach dem der Kinder; Bohnenkaffee leistete sie sich allenfalls sonntags. Nicht alle Kinder nahmen ein Butterbrot als zweites Frühstück mit in die Schule. Abhängig von der wirtschaftlichen Situation der Familie und den Neigungen der Kinder, wurde dies sehr unterschiedlich gehandhabt. In den Zeiten großer Hungersnot wurde den Kindern generell kein Frühstücksbrot mitgegeben, weil in den Schulen Schulkinderspeisungen (12) stattfanden. Verabreicht wurden verschiedene Suppen, zeitweise auch Milch und Brötchen.

 

In der Frühschichtwoche stand das Essen auf dem Tisch, wenn die Kinder aus der Schule kamen. Für den Vater, der gegen 14.45 Uhr von der Arbeit zurück war, wurde das Essen auf dem nicht direkt befeuerten Teil des Herdes warmgehalten. Dies bereitete bei Eintopfgerichten keine Schwierigkeiten. Bei getrennt gekochten Speisen wurden für ihn die Kartoffeln neu gekocht und auch Salat frisch angemacht.

 

Wenn eben möglich wurden für die Zubereitung der Speisen die selbst produzierten Nahrungsmittel eingesetzt. Montags kamen meist die Reste vom Sonntagsessen auf den Tisch. Samstags gab es ein Eintopfgericht, häufig Erbsen, Bohnen, Linsen oder Graupensuppe. Aber auch an den übrigen Wochentagen wurde mindestens noch einmal ein Eintopfessen zubereitet, sei es als Gemüsesuppe oder als fester Gemüseeintopf. Die Eintopfgerichte wurden mit Mettwurst oder Schweinefleisch gekocht und zur Erhöhung des Nährwerts nach dem Garwerden immer jeweils mit ausgelassenem Speck abgerundet. Eierspeisen, Frikadellen, Innereien, Bratwurst mit Gemüse oder Salat  gehörten zum Kochrepertoire aller Bergmannsfrauen, und mindestens eines dieser Gerichte wurde während der Woche zubereitet. Beliebt waren auch Reibe und Mehlpfannekuchen. Freitags kam die Fischfrau in die Kolonie. Das hatte zur Folge, daß an diesem Tag in vielen Familien auch aus religiösen Gründen  Fisch verzehrt wurde, meist als Brat-, seltener als Kochfisch. Heringe waren billig und wurden gleich in größeren Mengen gekauft, sowohl grüne Heringe als auch Salzheringe (13) . Pellkartoffeln mit eingelegtem Hering oder Brathering wurden gerne gegessen, obwohl ihnen das Odium des Armeleuteessens anhing.

 

Sättigungsgrundlage fast aller warmen Gerichte war die Kartoffel. Sie wurde als Salz-, Pell-, Stampf- und Bratkartoffel zubereitet und zu Reibekuchen und Klößen verarbeitet. Nudeln wurden als Sättigungsbeilage zum Hauptgericht nicht verwendet, Suppennudeln für die sonntägliche Rindfleischsuppe meist selbst hergestellt. Reis kam nur als Milchreis auf den Tisch und gelegentlich als Einlage in Hühnersuppe. An Werktagen gab es weder Vorsuppe noch Nachtisch.

 

Nachmittags war es üblich, Kaffee zu trinken. Zu dieser Zwischenmahlzeit gab es Brot mit Schmalz oder Rübenkraut und wieder Malzkaffee mit Milch und Zucker, der überhaupt in einer Blechkanne immer hinten auf dem Küchenherd als Getränk bereitstand. Bei Frühschicht konnte auch der Vater an dieser Mahlzeit teilnehmen. Trotzdem war die Familie dabei selten zusammen, weil die Kinder meist eine Schnitte Brot auf die Hand erhielten, die sie dann draußen verzehrten. Hatten sie Durst, so tranken sie ebenfalls Malzkaffee oder Leitungswasser, wozu sie einfach den Mund unter den Wasserhahn hielten.

 

In der Frühschichtwoche war dann die Familie gegen 19.00 Uhr beim Abendbrot vereint. Häufig aß man die aufgewärmten Reste vom Mittagessen. Eintopfgerichte wurden gleich in solcher Menge gekocht, daß für abends noch etwas übrig blieb. Kenntnisse über eventuelle Nährstoffverluste durch das Aufwärmen waren nicht vorhanden. Oft gab es abends Milchsuppe und Bratkartoffeln. Zur Herstellung der Milchsuppe wurde die Milch mit Mehlklümpchen, Haferflocken, Grieß, Sago oder Puddingpulver angedickt. Für die Bratkartoffeln verwendete die Hausfrau Reste der Salzkartoffeln vom Mittagessen, Pellkartoffeln oder rohe Kartoffeln. Brot, Wurst, manchmal auch Käse kamen vor allem samstags und sonntags auf den Abendbrottisch.

 

Hatte der Vater Mittagschicht, dann mußte das Mittagessen für ihn um 12.00 Uhr fertig sein und für die Kinder warmgehalten werden. Das Abendbrot nahmen Mutter und Kinder vor dem Zubettgehen der Kinder ein. Für den Vater wurden die Reste vom Mittagessen oder die Bratkartoffeln am späten Abend noch einmal aufgewärmt. Nur in der Nachtschichtwoche konnten Mittagessen und Abendbrot von der ganzen Familie gemeinsam eingenommen werden.

 

Der Sonntag fiel aus dem alltäglichen Mahlzeitenschema heraus. Zum einen war die Familie bei den Mahlzeiten vereint, da die rigiden Einflüsse der Schichtarbeit und Schulzeiten entfielen. Zum anderen merkte die Familie am besseren bzw. besonderen Essen, daß Sonntag war.

 

Die Vorbereitungen für die Sonntagsmahlzeiten begannen schon am Samstag: Das Fleisch für das Mittagessen wurde angebraten, und aus einer größeren Menge Mehl, meist aus fünf Pfund, wurde Hefeteig hergestellt und zu einem großen Stuten und zu Hefekuchen verbacken. Gelegentlich, besonders für Festtage, wurden auch Tortenböden und Rodonkuchen mit Backpulver als Teiglockerungsmittel gebacken. Da es jedoch leichter war, im kohlebeheizten Küchenherd mit Hefegebäck gute Backergebnisse zu erzielen, überwog der Einsatz von Hefe. Blechweise wurden Streuselkuchen, Käsekuchen, Mohnkuchen, Bienenstich und dem Obstangebot der Jahreszeit entsprechende Obstkuchen gebacken. Den vorbereiteten Stutenteig brachten viele Familien zum Bäcker und ließen ihn dort abbacken. Und sonntags gab es dann zum Frühstück Stuten und Hefekuchen und zum Nachmittagskaffee wieder Hefekuchen.

 

Das sonntägliche Mittagessen bestand immer aus drei Gängen: Rindfleischsuppe mit selbstgemachten Nudeln; Braten mit Klößen, Bratensoße und geschmortem Sauerkraut oder anderer Gemüsebeilage; Nachtisch (Schokoladenpudding (14) mit Vanillesoße, Vanillepudding mit Himbeersirup, Götterspeise, Kompott).

 

Eßkultur

 

Sowohl die Auswahl und Zusammenstellung von Nahrungsmitteln und deren Zubereitung als auch die Tischkultur, d. h. der Aufwand an Geräten und Geschirr, der Gebrauch von Messer und Gabel, das Decken des Tisches, das Anrichten der Speisen, die Verhaltensweisen bei Tisch, die Dauer der Essensaufnahme, sind Merkmale von Eßkultur. Diese Merkmale waren noch bis über die Mitte dieses Jahrhunderts hinaus wesentlich stärker schichtenspezifisch ausgeprägt als heute.

 

Im Hinblick auf die Tischkultur der Lohberger Bergmannsfamilien ist deutlich zwischen einer Alltags und einer Festtagskultur zu unterscheiden. Gewöhnlich - auch sonntags - wurde ohne textile Tischdecke am Küchentisch, der mit einem Wachstuch versehen war, gegessen. Zu den Brotmahlzeiten kamen als Geschirr lediglich Kaffeetassen auf den Tisch. Der Gebrauch von Untertassen und Desserttellern war nicht üblich. Die Hausfrau strich und belegte die Butterbrote auf einem Holzbrett oder Teller und reichte sie den Familienmitgliedern auf die Hand. Das Mittagessen und das warme Abendbrot wurden aus dem tiefen Teller (Suppenteller) gegessen, sonntags zuerst die Suppe, dann der Hauptgang aus demselben Teller. Den Nachtisch verzehrte man aus einem Glasschüsselchen. Außer Salat und Nachtisch, die in Schüsseln angerichtet und aufgetragen wurden, kamen alle anderen Speisen direkt aus den Töpfen, die auf den Tisch gestellt wurden, auf den Teller. Beim Essen war der Gebrauch eines Messers nicht üblich. Fleisch wurde vor dem Essen kleingeschnitten. Für die Kinder besorgte das die Mutter. Gegessen wurde entweder mit dem Löffel oder nur mit der Gabel. Da Kinder folglich das Essen mit Messer und Gabel nicht erlernten, hatten sie später häufig Probleme, wenn sie bei Einladungen oder beruflichen Anlässen mit den Verzehrsgewohnheiten anderer Schichten konfrontiert wurden und mühsam versuchten, sich anzupassen.

 

Einige Tischmanieren wurden allerdings auch in der Bergarbeiterfamilie beachtet: Es war verpönt, bei Tisch zu schmatzen, zu schlabbern, zu rülpsen und die Ellbogen auf den Tisch zu legen. Gegessen wurde, was auf den Tisch kam; und was auf den Tisch kam, bestimmte die Hausfrau.

 

An Werktagen wurde auf langes Verweilen und auf Kommunikation bei den Mahlzeiten kein Wert gelegt. Die Hausfrau trachtete eher danach, daß die Familie zügig aß und die Küche schnell wieder in Ordnung gebracht werden konnte. Zum einen wurde der Küchentisch nach den Mahlzeiten für verschiedene Arbeiten, z. B. Nähen, Bügeln, Essensvorbereitung, Hausaufgaben, gebraucht. Zum anderen war es üblich, den Herd, den Stolz der Hausfrau, nach dem Kochen des Mittagessens bald zu scheuern, damit er wieder in Glanz erstrahlte. Dies war eine mühsame Prozedur und eine der wenigen Hausarbeiten, die manchmal auch der Mann ausführte.

 

Wesentlich anders als an Werktagen und gewöhnlichen Sonntagen, wenn die Familie unter sich war, sah der äußere Rahmen der Mahlzeiten an Fest und Feiertagen aus, wenn Gäste bewirtet wurden. Die Bergmannsfamilien liebten ihre Feste und wußten sie zu feiern, die Feste im Jahresablauf, die Vereinsfeste und die Familienfeste, wie Taufen, Kommunionen und Konfirmationen und vor allem die Hochzeiten. Da wurde mit Hilfe von Nachbarn und Verwandten gebacken und gekocht, um üppige Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen; und die Familie scheute sich nicht, dafür Schulden zu machen. (15)

 

Das sogenannte “gute” Kaffee- und vielleicht sogar Eßservice, meist Hochzeitsgeschenke, die immer geschont wurden, kamen dann auf den Tisch, und die Haushalte halfen einander mit Mobiliar, Tischwäsche, Geschirr und Besteck aus. Die Frauen waren bemüht, den äußeren Rahmen der Mahlzeiten so zu gestalten, wie sie es bei Nachbarinnen gesehen, im hauswirtschaftlichen Unterricht erlernt und vor allem als Dienstmädchen im städtischen Haushalt immer wieder zu tun gehabt hatten. Ein Schritt auf dem Wege zur “Verbürgerlichung des Proletariats über die Schiene der Dienstbotenerziehung” (16) ist sicherlich auch durch die Übernahme von Gepflogenheiten der bürgerlichen Tischkultur bei der Gestaltung von Festen und Feiern im Bergarbeiterhaushalt erfolgt.

 

Veränderungen nach 1950

 

Der Blick auf die Ernährungsgewohnheiten der Bergarbeiterfamilien in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ergab das Bild einer Bevölkerung, die mit unermüdlicher Arbeit, großem Geschick und mit vielen Kenntnissen über die Produktion von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf und deren Bevorratung und Verwendung versuchte, die Ernährung ihrer Familien sicherzustellen und abwechslungsreich zu gestalten. Als ab 1950 die Löhne im Bergbau deutlich schneller stiegen als der Preisindex für die Lebenshaltung, kehrte bescheidener Wohlstand in die Lohberger Bergarbeiterhaushalte ein. Mit dem Ansteigen des Niveaus der Lebenshaltung ging die Subsistenzproduktion merklich zurück. Hinzu kam, daß in den nachgewachsenen Generationen das Interesse daran sank und viele Familien die Kolonie verließen und in Neubaugebiete am Rande Lohbergs zogen, in denen Gartenbau und Viehwirtschaft nicht mehr möglich sind. In die frei gewordenen alten Koloniewohnungen zogen immer mehr türkische Familien, deren Ernährungsverhalten stark von den Vorschriften des Islams bestimmt ist. Eine Angleichung der Ernährungsgewohnheiten der unterschiedlichen Bevölkerungsteile, wie sie zu Anfang dieses Jahrhunderts in der Kolonie stattfand, ist bisher kaum erkennbar. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

 

Anmerkungen:

  • (1) Brepohl, W., Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen 1948, S.186.
  • (2) Vgl. ebd., S. 191.
  • (3) Zum Verzehr von Mehlspeisen in Süddeutschland und Österreich vgl. Teuteberg, H. J., Wiegelmann, G., Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 266 ff.
  • (4) Borschtsch ist eine Suppe aus Rindfleisch, Weißkohl und roten Rüben. Bigos ist ein Sauerkrauteintopf mit Fleisch, Wurst und geräuchertem Speck. Schur besteht aus Stampfkartoffeln mit Zwiebeln und geräuchertem Speck, über die eine würzige Buttermilchsoße oder Sauerteigsoße gegeben wird.
  • (5) So zitierte Erna Klein, geh. Freischmidt, Jahrgang 1909, ihren Vater, Heinrich Freischmidt, Jahrgang 1870.
  • (6) Gemeint sind Quadratruten. Die Rute ist ein altes deutsches Längenmaß. 1 rheinische Rute = 3,766 m.
  • (7) Ludmilla Laskawi, geb. Hejduk, Jahrgang 1901.
  • (8) Vgl. Litschke, I., Im Schatten der Fördertürme, Duisburg 1993, S. 49 ff.
  • (9) Vgl. ebd., S. 59.
  • (10) Erna Klein, geb. Freischmidt; Martha Schwartz geb. Golawski, Jahrgang 1911.
  • (11) Dubbel = Zur Schicht mitgebrachtes Butterbrot. Vgl. Werkzeitschrift der Hamborner und der Friedrich Thyssen Bergbau AG, (Hrsg.), ABC für ergleute, Hamborn 1954, S. 15.
  • (12) Zu den Schulkinderspeisungen vgl. Litschke, 1., a. a. 0., S. 119 f ., S. 167; 181 f .
  • (13) Nach Erna Klein kosteten Mitte der zwanziger Jahre 33 Satzheringe 1,- RM.
  • (14) Die korrekte Bezeichnung Flammeri wurde in Lohberg nicht verwendet.
  • (15) Zum Schuldenmachen für Hochzeitsfeiern vgl. auch Husmann, H., Lebensformen und ihr Wandel beim Arbeiter in Hamborn, Diss. Mainz 1952, S. 89 ff.
  • (16) Wierling, D., “Vom Mädchen zum Dienstmädchen”, in: Bergmann, K., Schörken, R., (Hrsg.), Geschichte im Alltag - Alltag in der Geschichte, Düsseldorf 1982, S. 57.

 

Quellen:

  • Gespräche mit Lohberger Bergmannsfrauen der Jahrgänge 1901 bis 1930.
  • Brepohl, W., Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung, Recklinghausen 1948.
  • Fischer - Eckert, L., Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, Hagen 1913.
  • Husmann, H., Lebensformen und ihr Wandel beim Arbeiter in Hamborn, Diss. Mainz 1952.
  • Litschke, I., Im Schatten der Fördertürme, Duisburg 1993.
  • Teuteberg, H. J., Wiegelmann, G., Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung, Göttingen 1972.
  • Wierling, D., “Vom Mädchen zum Dienstmädchen”, in: Bergmann, K., Schörken, R., (Hrsg.), Geschichte im Alltag - Alltag in der Geschichte, Düsseldorf 1982, S. 5787.